Die amputierte Energiewende

Dies ist ein Repost eines Artikels von Michael Müller und dem Fotografen Paul Langrock in der Zeitschrift Naturfreundin 1/2020 mit freundlicher Genehmigung des

Naturfreunde-Verlags Freizeit und Wandern GmbH · www.naturfreunde-verlag.de.

Unter Energiewende wird heute fast nur noch der Ausbau der Erneuerbaren verstanden. Der ist natürlich wichtig, doch geht es bei der Energiewende um viel mehr.

Denn ursprünglich war mit der Energiewende eine umfassende Neuausrichtung des gesamten Energiesystems gemeint, die weit über die Förderung der Erneuerbaren hinausgeht. Vor allem sollten der Energieverbrauch und Wandlungsverluste drastisch gesenkt werden. Die Energiewende erfordert nicht nur ein Ende der fossilen und nuklearen Brennstoffe durch den Austausch der Energieträger. Zu ihr gehören auch eine Effizienzrevolution, möglichst weitgehende Dezentralität sowie mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung. Eine zentrale Leitidee der Wende heißt: Mehr Wohlstand mit weniger Energie.

Um die Dimension der Energiewende zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte. Ein wichtiger Ausgangspunkt war das Jahr 1973, als die Ölkrise die entscheidende Schwachstelle der Industriegesellschaften aufzeigte: die Abhängigkeit von massenhafter und preiswerter Energie.

Die damalige Ölpreiskrise, wie sie fortan genannt wurde, machte die Notwendigkeit einer umfassenden Neuordnung von Wirtschaft und Konsum deutlich, zumal es 1978 zur zweiten Ölkrise kam. Spätestens seitdem wissen wir: Der Wohlstand, der auf der maßlosen Ausbeutung der Ressourcen und grenzenlosen Überlastung der natürlichen Senken beruht, ist trügerisch, ja selbstzerstörerisch.

70 Prozent weniger Emissionen

1980 löste das Öko-Institut mit der Studie Energiewende – Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran eine breite Debatte gegen technokratische Sachzwänge aus, die von den großen Verstromern und ihren Protagonisten als unvermeidlich hingestellt wurden. Drei weitere Ereignisse gaben der Energiewende starken Rückenwind: 1986 kam es zum Tschernobyl-GAU, schließlich begann mit dem Stromeinspeisegesetz die Breitenförderung der Erneuerbaren und 1990 legte die Klima-Enquete das erste umfassende Reduktionsszenario für Treibhausgasemissionen vor (siehe auch NATURFREUNDiN 4–19, S. 25). Wäre deren Empfehlungen gefolgt worden, lägen die Treibhausgasemissionen in Deutschland heute rund 70 Prozent niedriger als 1990.

Die Konzepte der Energiewende zeigen: Wenn politische Rahmensetzungen grundlegend geändert werden, sind sowohl eine massive Verringerung des Energieeinsatzes möglich als auch die Abkehr von Atom und Öl. Die Energiepolitik darf nicht länger auf die Angebotsseite ausgerichtet werden, auf die großen Erzeugungskapazitäten mit hohen Reserveleistungen und gewaltigen Übertragungsnetzen. Ins Zentrum gehören die Einsparpotenziale auf der Nachfrageseite.

Notwendig ist ein Substitutionswettbewerb, dessen Ziel die Vermeidung von nicht notwendigem Energieeinsatz ist. Dazu bedarf es dezentraler Anreiz- und Umsetzungsstrukturen. Eine Integrierte Ressourcenplanung findet jedoch kaum statt. So ist es bei einer amputierten Energiewende geblieben: Statt zu den drei großen E –Einsparen, Effizienzrevolution und erneuerbare Energien – kam es wesentlich nur zum Erneuerbare-Energien-Gesetz. Und selbst das wird immer stärker gestutzt.


MICHAEL MÜLLER

BUNDESVORSITZENDER NATURFREUNDE DEUTSCHLANDS

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